DDR 1990

1990 - 91 für den SPIEGEL: die Wende in der DDR



Die "Ronneburger Titten"

Über Radioaktivität wurde in der DDR nie diskutiert, doch nach der Wende eilte die Kunde vom strahlenden Osten durch die Republik. Da waren zum Beispiel die weithin sichtbaren Uranerzhalden von Ronneburg. Das Gas Radon entwich aus den fast hundert Meter hohen Abraumkegeln.
Der Regen wusch die "Ronneburger Titten" aus, die giftigen Rückstände verseuchten das Grundwasser. Im nahen Tagebau drohten die offenen Gruben vollzulaufen und sich in einen riesigen Giftsee zu verwandeln.
ZEIT ONLINE 



Mödlareuth

"Little Berlin" nannten die Amerikaner Mödlareuth: die innerdeutsche Grenze mitsamt Mauer durchschnitt das Dorf. Heute ist Mödlareuth vereinigt und doch getrennt: Mödlareuth-Ost gehört zu Thüringen, hier grüßt man sich mit "Guten Tag". "Grüß Gott" sagt man im bayerischen Mödlareuth-West. Und in der Mitte fließt der Tannbach.
Text: Michaela Böhm



Blankenberg

Im thüringischen Blankenberg steht ein Stück Industriegeschichte: eine der ältesten Langsiebpapiermaschinen der Welt. Zu DDR-Zeiten blickten die Arbeiter der Papierfabrik durch die Fenster Richtung Bayern. Auf dem Dach passten bewaffnete Grenzer auf, dass keiner über den Grenzfluss in den Westen flüchtete.
Text: Michaela Böhm



Probstzella

Wo früher der Interzonenzug hielt, rast heute der Intercity von Berlin nach München durch. Vom ehemaligen deutsch-deutschen Grenzbahnhof ist nichts mehr zu sehen. Doch die Menschen in Probstzella erinnern sich noch.
Text: Michaela Böhm



Sonneberg

Sonneberg im südlichen Thüringen ist bekannt für sein Spielzeug. Ein Fünftel der weltweiten Spielzeugproduktion stammte nach dem Ersten Weltkrieg aus der Kleinstadt. Sibylle Abel ist an der Grenze aufgewachsen und kann sich noch gut erinnern.

Sonneberg im südlichen Thüringen ist bekannt für sein Spielzeug. Ein Fünftel der weltweiten Spielzeugproduktion stammte nach dem Ersten Weltkrieg aus der prosperierenden Kleinstadt, in der sich alles um Spielwaren drehte. Auch während der DDR-Zeit. Denn aus Sonneberg kommt Piko, die Modelleisenbahn des Ostens, früher im volkseigenen Betrieb (VEB) produziert und heute in Privatbesitz.

Sonneberg ist die Stadt mit kurzer Sperrgebietsgeschichte. 1972 haben die DDR-Behörden die Stadt aus wirtschaftlichen Gründen nach 21 Jahren aus dem Fünf-Kilometer-Sperrgebiet herausgenommen. Sibylle Abel, heute Bürgermeisterin von Sonneberg, ist an der Grenze aufgewachsen und kann sich noch gut erinnern.
Text: Michaela Böhm



Rieth

Wenn am Grenzzaun Alarm ausgelöst wurde, sind sämtliche Tore dichtgemacht worden. Jetzt durfte keiner mehr hinein oder heraus und sämtliche Arbeiten haben geruht. "Selbst wenn wir mitten in der Ernte waren," erinnert sich Norbert Wirsching. Grenzsicherung hatte in der DDR Vorrang.

Wirsching war der letzte Vorsitzende der Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft (LPG) im thüringischen Rieth und hat sich nach der Wende selbstständig gemacht.
Text: Michaela Böhm



Point Alpha

Point Alpha war neben OP Romeo, OP India und OP Oscar einer von vier US-Beobachtungsstützpunkten an der hessischen innerdeutschen Grenze.

Heute ist „Point Alpha“ der Name einer Mahn-, Gedenk- und Begegnungsstätte an der Straße zwischen Geisa und Rasdorf
Text: Michaela Böhm



Großensee

Von Hessen umzingelt: Die Gemeinde Großensee im thüringischen Wartburgkreis befand sich nach der Teilung Deutschlands nicht nur direkt im Sperrgebiet, sondern war auch noch auf drei Seiten vom Westen umschlossen.

Immer wenn Anneliese Platzdasch mit dem Kinderwagen im Ort spazieren ging, bremste sie ein Schlagbaum ab. Bis hierhin und nicht weiter. Aus dem Ort führte lediglich eine Straße hinaus nach Dankmarshausen. Dort lebte und predigte Pfarrer Fritz Ewald, der auch für die Kirchenmitglieder in Großensee zuständig war.

Allerdings wollte ihm die Polizei zunächst keinen Passierschein für den Nachbarort geben. "Aber wenn jemand in Großensee stirbt, muss ich doch zum Gespräch und zur Trauerfeier." Die Antwort: "Dann werden Sie gegriffen und zugeführt."
Text: Michaela Böhm



Asbach-Sickenberg

Asbach-Sickenberg liegt im Nordwesten von Thüringen, knapp vierzig Kilometer östlich von Kassel. Als Kind erlebte die heutige Bürgermeisterin Erna Ursel Lange die Entstehung der Grenzanlagen genau mit. Am Anfang war es nur der Hainsbach und die Kinder konnten über die Grenze hin- und herspringen. Doch dann wurde ein drei Meter breiter Streifen Land umgepflügt, den niemand mehr betreten durfte. Nach dem Streifen kam der erste Zaun und nach diesem der erste Turm und so ging es immer weiter.

So genannte Grenzdurchbrüche gab es auch hier. "Irgendwann hau ich ab", hat Heinz-Josef Große gesagt. Am 29. März 1982 versucht er es. Große fährt seinen Traktor, einen Überkopflader, bis direkt an den Grenzzaun, klettert in die Baggerschaufel und springt über den Zaun. Weit kommt er nicht, zwei DDR-Grenzsoldaten schießen auf ihn, bis er zusammenbricht und stirbt. Klaus Schaller, heute Mitarbeiter des Grenzmuseums Schifflersgrund bei Asbach-Sickenberg , hat Große gekannt: "Mein Schwiegervater hat gesagt, heute haben sie einen an der Grenze erschossen. Wird doch nicht der Große sein?“
Text: Michaela Böhm



Mackenrode

Dass die Kronenmühle von Familie Klöppner im thüringischen Mackenrode überhaupt noch existiert, liegt an der sogenannten Whisky-Vodka-Linie. Die wurde am 17. September 1945 vom amerikanischen General W.T. Sexton und dem sowjetischen General Vasili S. Askalepov im Wanfrieder Abkommen festgeschrieben. Und weil die beiden Unterzeichner sich zum Abschluss der Verhandlungen über den Gebietsaustausch zwischen amerikanischer und sowjetischer Besatzungszone nicht nur die Hände schüttelten, sondern auch eine Flasche des jeweiligen alkoholischen Nationalgetränks austauschten, lag der Spitzname nahe.

Schuld daran, dass die Linie so und nicht anders gezogen wurde und die Kronenmühle damit nicht mehr direkt an der Grenze, sondern im späteren DDR-Sperrgebiet lag, war die Bahnverbindung Bremerhaven/Bebra - später ebenfalls Whisky-Vodka-Linie genannt.

Die führte vor dem Gebietsaustausch 5,6 Kilometer durch die sowjetische Zone. Für Fahrgäste und Fahrer war die Strecke lebensgefährlich, und dass die vollbeladenen Züge bei Unterrieden in die sowjetische Zone einfuhren, und Stunden später bei Oberrieden wieder leer auftauchten war auf Dauer auch sehr lästig.
Text: Michaela Böhm



Lindewerra

Manfred Sippel ist nach der Wende zurückgekommen in sein Elternhaus nach Lindewerra im thüringischen Eichsfeld, etwa dreißig Kilometer südlich von Göttingen. Zwölf Jahre war er damals, als die Volkspolizei ihn und seine Familie abholte und ins Landesinnere verfrachtete. 1952 hieß die erste Welle der Zwangsaussiedlungen "Aktion Ungeziefer". Sippel, heute Bürgermeister, erinnert sich noch genau.

Ebenso wie Stockmachermeister Wolfgang Geyer. Er hat miterlebt, wie sein Nachbar abgeholt wurde. Das war neun Jahre später, bei der zweiten Welle der Zwangsaussiedlungen, diesmal mit dem Namen "Aktion Kornblume". Nach der Wende hat Geyer vor allem eins umgetrieben: Woher bekam er das Rohmaterial für seine Stöcke? Der volkseigene Betrieb hatte dichtgemacht. Also fuhr Geyer in die spanischen Pyrenäen und suchte Tal für Tal nach den Lieferanten ab.
Text: Michaela Böhm



Zwinge

Zwinge hat heute 423 Einwohner und liegt mitten in der Buckligen Welt. So wird das südliche Harzvorland genannt. Ansonsten liegt Zwinge in Thüringen und zwar exakt an der Grenze zu Niedersachsen. Normalerweise wurden Orte mit Null Meter Abstand zur deutsch-deutschen Grenze zügig von der Landkarte der DDR entfernt. Aber in Zwinge gab es eine Ziegelei und die Steine wurden dringend gebraucht. Und so wurde der Ort in eine Art geheimen Hochsicherheitstrakt verwandelt, ummauert und bewacht. Die Bewohner, die nicht in der Ziegelei arbeiteten und mit Passierschein den Ort verlassen durften, wurden angewiesen Stillschweigen über ihren Wohnort und dessen Grenznähe zu bewahren. Und der Pförtner der Ziegelei bekam eine Harke und musste lernen Spuren zu verwischen.
Text: Erla Bartmann



Elend

Wenn ein Ort im Sperrgebiet Elend heißt, ist eigentlich der Name schon Programm. Doch im Harz ist alles anders. Sperrgebiet hin, Sperrgebiet her – hierher wurden jährlich Tausende von DDR-Urlaubern für je zwei Wochen zur Erholung verschickt. Für 65 Mark – Kinder für 30 Mark – dafür aber mit allem Pipapo, Tanz, Gesang, umfangreicher Einführung, wie man sich im Sperrgebiet zu verhalten hat – und natürlich mit Passierschein.
Text: Erla Bartmann



Brocken

Von Frankreich bis zum Ural , von Dänemark bis zu den Alpen, soll der Aktionsradius von Jenissej und Urian gewesen sein. Jenissej, das war der Tarnname für die Abhöranlagen des sowjetischen Militärgeheimdienstes GRU auf dem Brocken, Urian der Tarnname für die der Stasi. 1141,1 Meter ragt der Brocken heraus aus der flachen Landschaft Norddeutschlands und ist damit der ideale Sendeposten. 1935 fand von dort die erste Fernsehübertragung von einem mobilen Sender statt, kurz darauf wurde der erste Fernsehturm der Welt auf den Gipfel gebaut. Später wurde vom Gipfel zwar auch das zivile Rundfunk- und Fernsehprogramm der DDR gesendet, ansonsten aber ungestört gehorcht. Denn seit dem 13. August 1961 war der Gipfel des Brocken militärisches Sperrgebiet im Grenzregime der DDR und damit nicht mal für Hexen ohne Passierschein zu erreichen.
Text: Erla Bartmann



Dedeleben

Die Ernst-Thälmann-Straße gibt es noch, genauso wie den Karl-Marx-Platz. Ansonsten hat sich in Dedeleben seit der Wende viel verändert. Früher lebte das Dorf, sagt Ortsbürgermeister Egbert Krause. Arbeitsplätze gab es reichlich, außerdem ein Kino, fünf Bäcker und sechs Gaststätten. Heute könnte man sich um 14 Uhr auf die Straße legen und würde dennoch nicht überfahren. Die Fabriken wurden dichtgemacht, die Landwirtschaft stillgelegt, übrig geblieben ist eine Cafeteria in der ehemaligen Grenzkaserne. Aus Dedeleben, einst bestens bewachtes Sperrgebiet an der Grenze zwischen Sachsen-Anhalt und Niedersachsen, ist ein Schlafdorf geworden.
Text: Michaela Böhm



Hötensleben

Wenn nachts Steinchen ans Fenster flogen, wusste Familie Huhn Bescheid. Es war wieder jemand über die Grenze in Hötensleben geflüchtet. Einmal stand sogar ein Volkspolizist im Schlafzimmer der Eltern. Kein Wunder, das Geburtshaus von Elke Huhn war das erste Haus im Westen und damit Anlaufstelle für DDR-Flüchtlinge. Das Grenzdenkmal von Hötensleben im Landkreis Börde in Sachsen-Anhalt gilt heute als die am besten erhaltene Grenzanlage und ist Anziehungspunkt für viele Besucher.
Text: Michaela Böhm



Marienborn

Anfangs ein paar Holzbaracken, später ein 35 Hektar großes Areal mit allem, was die DDR an Grenzschutzschikanen so zu bieten hatte, nachts taghell erleuchtet und kilometerweit zu sehen - genau 45 Jahre, vom 1. Juli 1945 bis zum 30. Juni 1990, war Marienborn der wichtigste Grenzübergang von Deutschland West nach Deutschland Ost. Heute ist der Einreisebereich eine Gedenkstätte ohne Passkontrolle und Kassenhäuschen und wer auf der A2 nach Magdeburg oder Berlin unterwegs ist, kann vom Autobahnrastplatz direkt hinein- und hinausgehen.
Text: Erla Bartmann



Boizenburg

Früher hatte Boizenburg 2000 Beschäftigte in der Elbewerft und 1000 im Fliesenwerk, dafür aber keinen Blick auf die Elbe, geschweige denn einen Zugang zu ihr. Heute hat Boizenburg eine stillgelegte Werft, ein Fliesenwerk, das ums Überleben kämpft, dafür aber eine wunderschön sanierte Altstadt, ein sehr sehenswertes und gut sortiertes Fliesenmuseum und freien Zugang zur Elbe.
Text: Erla Bartmann



Dassow

Heute ist Dassow die nordwestlichste Stadt in Mecklenburg-Vorpommern und wird "Das Tor zur Ostsee" genannt. Bis 1989 lag Dassow mitten im Sperrgebiet und das einzige Tor zur Ostsee war der Schlagbaum an der Straße nach Wismar. Wer da durch wollte, brauchte einen Passierschein. Der kurze Weg zur Ostsee – über den Dassower See, die Travemündung und vorbei an Travemünde – führte komplett durch die Bundesrepublik und war nur für Seeadler, Kormorane, Eisvögel und andere hier heimische Vögel passierbar. Denn am Seeufer stand eine gut bewachte Mauer ohne Tor und an der führte kein Weg vorbei.
Text: Erla Bartmann



Flucht über die Ostsee

Wie viele DDR-Bürger über die Ostsee geflohen sind, oder versucht haben, über die Ostsee zu fliehen, wird sich wohl nicht mehr feststellen lassen. Viele sind umgekommen, viele wurden festgenommen, einige sind durchgekommen. Die wenigsten wollen darüber reden. Einer, der von Rerik bei Kühlungsborn aus gestartet ist, war bereit, darüber zu reden. Zwei Nächte und einen Tag war er auf der Flucht.
Text: Erla Bartmann